Murmillo-Archiv

Mittwoch, 26. März 2014

CICERO: AD ATTICUM (EPISTULAE), LIB. I, 10: IN DER ANTIKE WAR DIE POST ETWAS UMSTÄNDLICH

CICERO ATTICO SALUTEM (C. (wünscht) Atticus Wohlergehen)

1) Cum essem in Tusculano (Als ich auf dem Tusculum war (,meinem Landgut) (erit hoc tibi (dies wird Dir (für Dich) sein) pro illo tuo (für"jenes Dein"=für deinen bekannten Ausspruch; anstelle deines Auspruches) 'cum essem in Ceramico' (als ich auf dem Ceramicus war), verum tamen (gleichwohl; wie dem auch sei) cum ibi essem (als ich (also nun; Reclam) dort war), puer a sorore tua missus (ein Junge, von Deiner Schwester geschickt; der von deiner Schwester geschickt wurde) epistulam mihi abs te adlatam dedit (gab mir einen von Dir überbrachten; hinzugefügten; mitgebrachten Brief; händigte mir einen von Dir beigelegten (beigefügten) Brief aus; einen Brief, der von Dir...) nuntiavitque (und er verkündte) eo ipso die (genau an diesem Tage noch heute) post meridiem (nach dem Mittag=am Nachmittag) iturum eum (werde dieser gehen; losgehen), qui ad te proficisceretur (der sich zu Dir aufmachen sollte; um zu Dir aufzubrechen). Eo factum est ut (Dadurch ist es geschehen; daß; So kam es, daß) epistulae tuae rescriberem aliquid (Deinem Brief irgend etwas schriftlich antwortete; auf Deinen Brief irgendwas zurückschrieb), brevitate temporis ((jedoch) aufgrund der Kürze der Zeit; wegen der...) tam pauca cogerer scribere (gezwungen wurde, so weniges (wenig) zu schreiben).-
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Tusculanum: Landgut Ciceros bei Tusculum
erit hoc tibi pro...: wenn Atticus den Brief lesen wird; wird wohl; Reclam: das entspricht
Ceramicus: Vorstadt von Athen; nach Thukydides sogar die schönste!
iturum: erg. "esse"; Inf. Fut. Akt.
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Saztbauplan:
1) Temporalsatz+Parenthese+Wiederaufnahme des Temporalsatzes+Hauptsatz:-2 participia coniuncta (PC)+Prädikat 1+Prädikat 2+ACI+Relativsatz.
2) Hauptsatz+2 Konsekutivsätze.
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Satz 1) des Briefes schildert die Ausgangslage: Cum-Satz: räumliche und zeitliche Umstände: Wo? Wann?-Cicero befindet sich auf seinem Landgut in Tusculum. Mit der Parenthese imitiert er scherzhaft eine Redensart des Freundes. Er unterbricht sich selber, um mit einer geistreichen Formulierung den Freund zu erfreuen. Schließlich schreibt er ja nicht an Hinz und Kunz, sondern an ATTICUS. Das verpflichtet. (Immer ein kleiner Scherz auf den Lippen!) Dann kommt er zur Sache: Die Schwester hat einen Briefträger (puer) zu Cicero geschickt, der diesem einen Brief übergab, den Atticus der Schwester gegeben hatte. Warum hat Atticus den Brief nicht selber geschickt? Es wäre denkbar, daß er keinen Boten hatte oder daß die Schwester Cicero ein Päckchen gemacht hat, und Atticus den Brief beilegte (hinzufügte). Vielleicht wollte er Porto sparen. Der Junge macht sich also zu Fuß oder vielleicht mit einem Esel auf den (sicher beschwerlichen) Weg nach Tusculum. Wahrscheinlich war er ein armer Kerl mit geringem Sozialstatus und lebte von solchen Jobs. Er muß aber zuverlässig und vertauenswürdig gewesen sein, sonst hätte man ihm die Post nicht anvertraut. Cicero hätte vielleicht den Brief sonst nicht bekommen, "Ad Atticum I, 10" wäre vielleicht nie geschrieben worden und wir wären um ein schönes Dokument aus der Antike ärmer. Verum tamen: gleichwohl (aber dennoch). Der Brief wurde korrekt überbracht, und der Junge bekam sicher ein Glas Wein und ein Trinkgeld. Schließlich war der Adressat MTC und da darf man sich nicht lumpen lassen! Wie geht es weiter? Der Junge übergibt also Cicero respektvoll den Brief des Atticus und teilt ihm mit, daß gleich am Nachmittag desselben Tages ein anderer Kurier (eum) losgehe (iturum; PFA; vielleicht auch losrenne), um sich auf den Weg zu Atticus zu machen. Wie es scheint, existierte so etwas wie ein (loser) Kurierdienst. Daß derselbe Junge nicht den Weg zurückging, kann daran liegen, daß er erschöpft war. Vielleicht hatte er auch ein Mädchen in Tusculum, das er besuchen wollte. Cicero hätte sicher gelächelt und Verständnis gehabt. Was bedeutet dies nun für Cicero? Er muß schnell ein Antwortschreiben verfassen, das sehr kurz ausfällt und nur wenig enthält, wofür sich Cicero entschuldigt.
Warum wartete er nicht mit der Antwort? Entweder aus Höflichkeit und Respekt  vor dem Freund oder weil die nächste Post erst wieder nach längerer Zeit zu Atticus käme.
Wie man sieht, war Cicero ein Mensch, der sehr viel dachte und gewohnt war, jede Situation zu analysieren (denkerisch zu durchdringen). Wie erleben hier Cicero von seiner inoffiziellen, privaten und menschlichen Seite. Der Brief ist außerdem ein schönes Zeugnis einer Freundschaft. Wir erfahren viel über Ciceros soziales Umfeld (s. die Schwester von Atticus, die Cicero verbunden gewesen zu sein scheint) und seinen respektvollen und zuvorkommenden Umgang mit dem kongenialen Freund. Nicht zuletzt erlaubt er uns (wie bei einem alten Photoalbum) einen Blick in längst vergangene Zeiten. Wir bekommen Einsicht in eine individuelle Lebenssituation von damals sowie ganz allgemein in das damalige Leben.
Nur wie der Junge hieß und sein vermutetes Reittier, werden wir nie erfahren. (Vielleicht Titus und Paulus bzw. Paula.) Sie gehören zu den Namenlosen der Geschichte, die sich redlich gemüht haben, geringen Lohn dafür erhielten und kaum Spuren hinterließen.-
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Tribunus


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